Neuer sozialer Wohnbau in Barcelona, ein Vorbild für Innovation und Nachhaltigkeit

Junge katalanische Architekten setzen neue Impulse für gemeinschaftliches Wohnen mit ökologischem, sozialem und wirtschaftlichem Mehrwert

Soziales Wohnbauprojekt Illa Glòries in Barcelona, © Ajuntament de Barcelona

Sozialer Wohnungsbau, gestern und heute

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts bildet der kollektive Wohnungsbau eines der zentralen Themen der architektonischen und sozialen Debatte in Europa. Der Ursprung dieser Typologie geht auf die römischen Insulae zurück, mehrstöckige Wohnblöcke für Bürger, die sich kein eigenes Haus leisten konnten. Dieses Konzept geriet jahrhundertelang in Vergessenheit, erlebte jedoch mit dem Beginn der industriellen Revolution ein ungewöhnliches Comeback.

Die massive Abwanderung vom Land in die Städte führte seinerzeit zu einer noch nie dagewesenen Wohnungskrise, von der eine wenngleich arbeitende, jedoch unter prekären Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen lebende Bevölkerung betroffen war. Als Politiker und Architekten schließlich die Dringlichkeit des Problems erkannten, entbrannte die Debatte um die Frage: Wie lässt sich der hohe Wohnraumbedarf decken? Erst mit der Zeit wurde klar, dass diese Fragestellung zu kurz griff. Vielmehr mussten die Bedürfnisse genauer definiert werden, da sie von Land zu Land variieren und sich sogar für ein und dieselbe Familie innerhalb weniger Jahre ändern konnten.

Historische Vorbilder: Gemeinschaftsunterkünfte sowjetischer Prägung und die Arbeiterwohnungen der Casa Bloc in Barcelona

In der frühen Sowjetunion waren Experimente wie die Kommunalki, die Familien zur gemeinsamen Nutzung von Wohnraum verpflichteten, stets problematisch. Selbst flexiblere Vorschläge wie Moisei Ginzburgs Narkomfin-Kommunehaus in Moskau (1930) funktionierten nur bedingt und zeigten deutlich, dass nicht jede Lösung geeignet war.

Ebenfalls geschmälert wurden die Errungenschaften des wohl emblematischsten Projekts in Barcelona, der Casa Bloc (1936) von Josep Lluís Sert, Josep Torres Clavé und Joan Baptista Subirana – im konkreten Fall aufgrund politischer Entscheidungen. Einige wegweisende Bauten des 20. Jahrhunderts wurden sogar abgerissen, entweder weil ihre Lösungen nach einigen Jahren als veraltet galten oder weil sie zu keinem Zeitpunkt als wirklich angemessen erachtet worden waren. Nur wenige Typologien der Architektur blicken auf eine so wechselvolle Geschichte zurück wie der soziale Wohnungsbau.

Bezahlbarer Wohnraum für alle: ein neuer Blick auf ein bestehendes Problem

Heute, einhundert Jahre später, ist es an der Zeit, die Frage erneut zu stellen: Welche Reichweite sollte der soziale Wohnungsbau gegenwärtig haben?

In Barcelona haben Faktoren wie städtische Dichte und Immobilienspekulation dazu geführt, dass der Bedarf an erschwinglichen Wohnungen über die sozial schwachen Bevölkerungsgruppen hinausgeht. Bildeten vor hundert Jahren beispielsweise Arbeiter mit geringen Löhnen und häufig Binnenmigranten die Zielgruppe, so wäre es heute schwierig, ein eindeutiges Profil zu definieren. Vielmehr ergibt sich eine heterogene Gruppe, darunter Menschen, die dauerhaft Schwierigkeiten haben, einen Arbeitsplatz zu finden oder zu behalten, Personen im Ruhestand, deren Rente kaum zum Überleben reicht, aber auch junge Menschen, die sich trotz Festeinstellung keine eigene Wohnung – nicht einmal mehr zur Miete – leisten können. Die Migrationsbevölkerung zum Beispiel verzeichnet heute einen erheblichen Anteil an Ausländern mit unterschiedlichstem Hintergrund.

All diese und viele weitere Faktoren stellen uns Architekten vor eine große Herausforderung. Wir entwerfen für Personengruppen mit unterschiedlichen und wechselnden Bedürfnissen, mit einer Vielzahl von Bräuchen und mit Familienstrukturen, die von einer einzelnen Person bis hin zu Großfamilien reichen können.

Promotion öffentlicher Wohnbauprojekte in Barcelona, © Laura Guerrero/barcelona.cat, unter Lizenz CC BY-NC-ND 4.0

Temporärer Wohnraum für besonders schutzbedürftige Gruppen

Angesichts dieser Aufgaben positioniert sich Barcelona einmal mehr als Vorreiter und beeindruckt mit einer Vielfalt von Projekten, die sich zu sozialem Engagement und gleichzeitig konzeptionell und funktional innovativen architektonischen Lösungen verpflichten. Die Typenvielfalt reicht dabei bis zu relativ neuen Varianten gemeinschaftlicher Wohnmodelle, zum Beispiel temporäre Unterkünfte. Sie sind für die Unterbringung von schutzbedürftigen Menschen in Übergangsprozessen konzipiert, wie etwa Flüchtlinge oder Obdachlose, denen erstmals Zugang zu sozialer Sicherung gewährt wird. Der temporäre Charakter verlangt nach kleinen und kostengünstigen Minimalwohnungen und folgt damit dem Konzept der „Wohnung für das Existenzminimum“, das vor hundert Jahren in der Weimarer Republik formuliert wurde.

Container als temporäre Unterkünfte: APROP Ciutat Vella von Straddle3, Eulia Arkitektura und Yaiza Terré

Um dieser Herausforderung entgegenzutreten, wurde in den letzten Jahren die Idee des Bauens mit Schiffscontainern erneut aufgriffen, ein Konzept, das auf die 1970er Jahre zurückgeht und bereits in anderen europäischen Städten – wenngleich mit gemischten Ergebnissen – umgesetzt wurde. Es ist daher interessant, einen Blick auf die spezifischen Anpassungen zu werfen, die für diese einzigartige Form des Recyclings im Lokalkontext von Barcelona vorgenommen wurden.

Containerbau APROP Ciutat Vella, © Ajuntament de Barcelona, unter Lizenz CC BY-NC-ND 2.0

Das inspirierendste Beispiel findet sich an einem überraschenden Ort: im Herzen des Gotischen Viertels. Der Standort des ersten APROP-Projekts (2020) ist kein Zufall, denn das Planungsteam, bestehend aus Straddle3, Eulia Arkitektura und Yaiza Terré, ist bestrebt, der Gentrifizierung des historischen Zentrums entgegenzuwirken, indem es sich ein im städtischen Besitz befindliches Grundstück zunutze macht. Der auffälligste Aspekt des Projekts ist seine Hülle aus Polykarbonat und Holz, die zur Klimatisierung der Wohnungen beiträgt und deren räumlichen Qualitäten verbessert. Darüber hinaus sorgt die Doppelfassade durch subtile Anspielungen auf die traditionelle Architektursprache für eine bessere Einbindung des Gebäudes in die Umgebung und befreit es gleichzeitig vom Stigma des Defizitären, mit dem Containerbauten häufig behaftet sind.

Mischlösungen: Wohnbau Tangerstraße von Coll-Leclerc und Edificio Caracol von Estudio Herreros und MIM-A

Temporäre Unterkünfte und Sozialwohnungen können auch auf innovative Weise miteinander kombiniert werden, wie Jaime Coll und Judith Leclerc mit ihrem Projekt in der Carrer Tànger in Poblenou (2018) eindrücklich beweisen. Dieses Gebäude ist um einen Innenhof herum organisiert, der den Baukörper unterteilt. Eine Reihe von Stegen und Brücken durchdringen diesen Zwischenraum, der sowohl als Verteiler als auch als Erweiterung des öffentlichen Raums fungiert. Die temporären Unterkünfte sind in einem Volumen gruppiert, das sich durch die differenzierte Behandlung seiner Fassade auszeichnet, ohne damit die Einheit des Projekts zu gefährden.

Sozial gemischter Wohnbau Tangerstraße, © Curro Palacios/barcelona.cat, unter Lizenz CC BY-NC-ND 4.0

Eine weitere Modalität, die sich in den letzten Jahren konsolidiert hat, ist die Einbeziehung von Sozialwohnungen in kommerzielle Projekte. Ein interessantes Beispiel für dieses Modell ist das Caracol-Gebäude in Sant Boi de Llobregat (2019), nach dem Entwurf des Architekturbüros Estudio Herreros in Zusammenarbeit mit MIM-A Arquitectes, das Wohnungen mit einer unterschiedliche Belegungsgröße von zwei bis fünf Personen beherbergt. Das Volumen, das von außen einfach, kompakt und zurückhaltend erscheint, ist unregelmäßig perforiert, wodurch eine Reihe von miteinander verbundenen Gemeinschaftsräumen entsteht, die im Inneren einen farbenfrohen und spielerischen Ausdruck annehmen.

Gemeinsames Entwerfen: Wohnungsbaugenossenschaft La Borda von Lacol

Ein besonders interessantes Organisationsmodell ist das der Wohnungsbaugenossenschaft, das in Barcelona unter anderem vom Architekturkollektiv Lacol vorangetrieben wird. In seinem symbolträchtigsten Projekt, der Hausgemeinschaft La Borda (2018), sucht es nach einer Alternative zum privaten und staatlich geförderten Wohnungsbau. In diesem Fall wird dies durch kollektives Eigentum auf einem in Erbpacht vergebenen kommunalen Grundstück erreicht. Planung und Verwaltung des Projekts erfolgen von Beginn im partizipativen Prozess und ermöglichen eine individuelle und gleichzeitig flexible Gestaltung der Wohnungen.

Wohnbaugenossenschaft La Borda, © GA Barcelona

Das formale und konzeptionelle Vorbild von La Borda ist die Corrala, ein seit dem 17. Jahrhundert in Kastilien und Andalusien verbreitetes mehrstöckiges Atriumhaus, das seinen Ursprung möglicherweise in den andalusischen Karawansereien findet. Obwohl es sich um einen Bautyp handelt, der in Katalonien keinerlei Tradition hat, gilt festzuhalten, dass einige singuläre Bauten Barcelonas typologische Ähnlichkeiten aufweisen, so zum Beispiel das Hotel Peninsular im Raval (1875).

In jedem Fall interpretiert das Team um Lacol die Typologie neu, indem es einen besonders attraktiven, sich in alle Richtungen öffnenden gemeinschaftlichen Innenhof schafft. Die visuelle Verbindung zwischen dem Erdgeschoss, dem ersten und dem fünften Stockwerk wird durch doppelte Höhen, transluzente Schiebewände und gestaffelte Innenfassaden, die zum Teil durch die flexible Konfiguration der Stockwerke entstehen, noch verstärkt. Besonders hervorzuheben ist an diesem Projekt das Engagement für Nachhaltigkeit – es handelt sich um einen Holzbau mit passiver Gebäudeklimatisierung, einschließlich eines Gewächshausdaches.

Wohnbaugenossenschaft La Borda, © GA Barcelona

Flexibles Grundriss-Raster: 85 Sozialwohnungen in Cornellà de Llobregat von Peris + Toral Arquitectes

Zu den wohl spannendsten Wohnbauprojekten der letzten Jahre zählen die Entwürfe von Marta Peris und José Toral, denen der soziale Wohnungsbau seit Anbeginn ihres Schaffens ein wichtiges Anliegen ist. Das bekannteste Projekt der beiden Architekten ist der 2021 fertiggestellte, 85 Wohnungen umfassende Sozialwohnungsbau in Cornellà de Llobregat. Die Konfiguration des Blocks, ein rechteckiges Prisma mit fünf Ebenen um einen zentralen, länglichen Innenhof, scheint auf den ersten Blick keine wesentliche Neuerung zu bieten und an den Prototyp Immeuble-villas von Le Corbusier (1922) und in gewisser Weise auch an die Wohnblöcke des Eixample in Barcelona anzuknüpfen.

85 Sozialwohnungen in Cornellà de Llobregat, © GA Barcelona

Zum Erfolg des Projektes haben maßgeblich andere Faktoren beigetragen, angefangen bei Entwurfs- und Konstruktionsstrategien, die die effiziente Nutzung von Holz maximieren, die Materialmenge reduzieren und die Ausführungszeiten verkürzen. Das unterscheidende Element des architektonischen Entwurfs ist jedoch das Raster, auf dessen Grundlage die Etagen organisiert, die Größe der Räume standardisiert und innere Verkehrsflächen eliminiert werden (denn letztere entziehen den Wohnräumen Nutzfläche).

Auch die äußeren Erschließungswege sind auf ein Minimum reduziert und gruppieren sich zu vier jeweils an den Ecken des Innenhofs gelegenen vertikalen Kernen. Was zunächst wie um den Gemeinschaftsraum angeordnete umlaufende Flure erscheint, entpuppt sich als private Terrassen. Ein dritter erwähnenswerter Punkt ist die funktionale Flexibilität des Entwurfs, die Peris und Toral bereits in früheren Projekten erprobt haben und die im konkreten Fall unmittelbar auf das modulare Grundriss-Raster zurückzuführen ist. Schließlich zeichnet sich das Gebäude auch durch die sensorische Vielfalt seiner Oberflächentexturen aus.

85 Sozialwohnungen in Cornellà de Llobregat, © GA Barcelona

Barcelona: Innovativer und nachhaltiger sozialer Wohnungsbau für eine zukunftsfähige Stadtentwicklung

Alle von uns besprochenen Beispiele zeitgenössischen sozialen Wohnungsbaus haben eine Gemeinsamkeit: ihr Engagement für eine sowohl in ökologischer als auch in sozialer Hinsicht nachhaltige Stadtentwicklung. Ein Aspekt, der noch vor 20 Jahren im Wohnungsbau eine eher untergeordnete Rolle spielte, ist heute für fast jedes architektonische Projekt unerlässlich.

So ist nicht zu übersehen, dass viele gelungenen Beispiele bezahlbaren Wohnungsbaus in Barcelona darauf abzielen, den CO2-Fußabdruck zu reduzieren – zunächst während des Bauprozesses durch die Verwendung lokaler Materialien und die Verkürzung der Bauzeit. Mittel- und langfristig wird angestrebt, durch fortschrittliche Klimatisierungsstrategien sowohl den Energieverbrauch als auch die Energieabhängigkeit der Wohnungen zu reduzieren. Andererseits führt der Ruf nach einer Ausweitung des sozialen Wohnungsneubaus zur Umsetzung von Projekten in noch nie dagewesenem Umfang, wie zum Beispiel der Wohnblock Illa Glòries, der nicht weniger als 238 Wohnungen beherbergen wird.

Soziales Wohnbauprojekt Illa Glòries, © Ajuntament de Barcelona

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich der Sozialwohnungsbau des 21. Jahrhunderts in Barcelona durch Quantität, Qualität und einer Vielfalt an Lösungen auszeichnet und dabei gemeinsamen Leitlinien einer nachhaltigen Entwicklung folgt – ein Sachverhalt, der uns mit Zuversicht und Vertrauen in die Zukunft der Stadt und ihrer Architektur blicken lässt.

Text: Pedro Capriata

LITERATURVERZEICHNIS

A+T Architecture Publishers (2022). a+t 56: Generosity. Housing Design Strategies –The Indeterminacy of the Floor Plan.

Ajuntament de Barcelona (2022). Empiezan las obras de la manzana Glòries, la promoción de vivienda pública más grande de la ciudad.
https://www.habitatge.barcelona/es/noticia/empiezan-las-obras-de-isla-glories-la-promocion-de-vivienda-publica-mayor-de-la-ciudad_1148591

Arquitectura Viva (2019). Vivienda y alojamientos temporales, Barcelona. AV Monografías, Nº 213 -214. España 2019.
https://arquitecturaviva.com/obras/vivienda-y-alojamientos-temporales-en-barcelona

Arquitectura Viva (2021). Cooperativa de vivienda La Borda, Barcelona. AV Monografías, Nº 233 -234. España 2021.
https://arquitecturaviva.com/obras/lacol-arquitectura-cooperativa-la-borda-28-en-barcelona-zs6o2

Arquitectura Viva (2021). Edificio Caracol, Sant Boi de Llobregat. AV Monografías, Nº233 -234. España 2021.
https://arquitecturaviva.com/obras/edificio-de-viviendas-en-sant-boi-de-llobregat

Broto, C. (2014). Social Housing. Architecture and Design. UNKNO.

Burgen S. (2019). Sardine tins for the poor?: Barcelona’s shipping container homes. The Guardian. https://www.theguardian.com/cities/2019/sep/06/sardine-tins-for-the-poor-barcelonas-shipping-container-homes

Figuerola C., Bilbao I. (2023). Gestar-habitar: Estratègies per a l’habitatge social a Barcelona. Ajuntament de Barcelona.

Forner, G. (2022). Barcelona construye más vivienda pública que la Generalitat y la Comunidad de Madrid juntas. El Salto.
https://www.elsaltodiario.com/barcelona/construye-mas-vivienda-publica-madrid-generalitat-juntas

Frampton, K. (1992). Modern Architecture. A Critical History. Thames and Hudson.

Novo Muñoz, L. (2020) APROP, una interesante iniciativa de vivienda social temporal en Barcelona. Diariodesign.
https://diariodesign.com/2020/10/aprop-una-interesante-iniciativa-de-vivienda-social-temporal-en-barcelona/

Peris+Toral Arquitectes (s.f.). Modos de habitar.
https://peristoral.com/proyectos/modos-de-habitar

Vicente, S. (2022). Barcelona acuerda un crédito público de 140 millones para que fundaciones y cooperativas construyan vivienda social. elDiario.es
https://www.eldiario.es/catalunya/barcelona-acuerda-ico-icf-credito-140-millones-fundaciones-cooperativas-construyan-vivienda-publica_1_9207041.html

Published On: Juni 5, 2023Categories: blog
Barcelonas Superblöcke und Grünachsen, Bausteine für eine nachhaltige Stadtentwicklung
Die Pritzker-Preisträger und ihre Bauten in Barcelona I

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Soziales Wohnbauprojekt Illa Glòries in Barcelona, © Ajuntament de Barcelona

Sozialer Wohnungsbau, gestern und heute

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts bildet der kollektive Wohnungsbau eines der zentralen Themen der architektonischen und sozialen Debatte in Europa. Der Ursprung dieser Typologie geht auf die römischen Insulae zurück, mehrstöckige Wohnblöcke für Bürger, die sich kein eigenes Haus leisten konnten. Dieses Konzept geriet jahrhundertelang in Vergessenheit, erlebte jedoch mit dem Beginn der industriellen Revolution ein ungewöhnliches Comeback.

Die massive Abwanderung vom Land in die Städte führte seinerzeit zu einer noch nie dagewesenen Wohnungskrise, von der eine wenngleich arbeitende, jedoch unter prekären Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen lebende Bevölkerung betroffen war. Als Politiker und Architekten schließlich die Dringlichkeit des Problems erkannten, entbrannte die Debatte um die Frage: Wie lässt sich der hohe Wohnraumbedarf decken? Erst mit der Zeit wurde klar, dass diese Fragestellung zu kurz griff. Vielmehr mussten die Bedürfnisse genauer definiert werden, da sie von Land zu Land variieren und sich sogar für ein und dieselbe Familie innerhalb weniger Jahre ändern konnten.

Historische Vorbilder: Gemeinschaftsunterkünfte sowjetischer Prägung und die Arbeiterwohnungen der Casa Bloc in Barcelona

In der frühen Sowjetunion waren Experimente wie die Kommunalki, die Familien zur gemeinsamen Nutzung von Wohnraum verpflichteten, stets problematisch. Selbst flexiblere Vorschläge wie Moisei Ginzburgs Narkomfin-Kommunehaus in Moskau (1930) funktionierten nur bedingt und zeigten deutlich, dass nicht jede Lösung geeignet war.

Ebenfalls geschmälert wurden die Errungenschaften des wohl emblematischsten Projekts in Barcelona, der Casa Bloc (1936) von Josep Lluís Sert, Josep Torres Clavé und Joan Baptista Subirana – im konkreten Fall aufgrund politischer Entscheidungen. Einige wegweisende Bauten des 20. Jahrhunderts wurden sogar abgerissen, entweder weil ihre Lösungen nach einigen Jahren als veraltet galten oder weil sie zu keinem Zeitpunkt als wirklich angemessen erachtet worden waren. Nur wenige Typologien der Architektur blicken auf eine so wechselvolle Geschichte zurück wie der soziale Wohnungsbau.

Bezahlbarer Wohnraum für alle: ein neuer Blick auf ein bestehendes Problem

Heute, einhundert Jahre später, ist es an der Zeit, die Frage erneut zu stellen: Welche Reichweite sollte der soziale Wohnungsbau gegenwärtig haben?

In Barcelona haben Faktoren wie städtische Dichte und Immobilienspekulation dazu geführt, dass der Bedarf an erschwinglichen Wohnungen über die sozial schwachen Bevölkerungsgruppen hinausgeht. Bildeten vor hundert Jahren beispielsweise Arbeiter mit geringen Löhnen und häufig Binnenmigranten die Zielgruppe, so wäre es heute schwierig, ein eindeutiges Profil zu definieren. Vielmehr ergibt sich eine heterogene Gruppe, darunter Menschen, die dauerhaft Schwierigkeiten haben, einen Arbeitsplatz zu finden oder zu behalten, Personen im Ruhestand, deren Rente kaum zum Überleben reicht, aber auch junge Menschen, die sich trotz Festeinstellung keine eigene Wohnung – nicht einmal mehr zur Miete – leisten können. Die Migrationsbevölkerung zum Beispiel verzeichnet heute einen erheblichen Anteil an Ausländern mit unterschiedlichstem Hintergrund.

All diese und viele weitere Faktoren stellen uns Architekten vor eine große Herausforderung. Wir entwerfen für Personengruppen mit unterschiedlichen und wechselnden Bedürfnissen, mit einer Vielzahl von Bräuchen und mit Familienstrukturen, die von einer einzelnen Person bis hin zu Großfamilien reichen können.

Promotion öffentlicher Wohnbauprojekte in Barcelona, © Laura Guerrero/barcelona.cat, unter Lizenz CC BY-NC-ND 4.0

Temporärer Wohnraum für besonders schutzbedürftige Gruppen

Angesichts dieser Aufgaben positioniert sich Barcelona einmal mehr als Vorreiter und beeindruckt mit einer Vielfalt von Projekten, die sich zu sozialem Engagement und gleichzeitig konzeptionell und funktional innovativen architektonischen Lösungen verpflichten. Die Typenvielfalt reicht dabei bis zu relativ neuen Varianten gemeinschaftlicher Wohnmodelle, zum Beispiel temporäre Unterkünfte. Sie sind für die Unterbringung von schutzbedürftigen Menschen in Übergangsprozessen konzipiert, wie etwa Flüchtlinge oder Obdachlose, denen erstmals Zugang zu sozialer Sicherung gewährt wird. Der temporäre Charakter verlangt nach kleinen und kostengünstigen Minimalwohnungen und folgt damit dem Konzept der „Wohnung für das Existenzminimum“, das vor hundert Jahren in der Weimarer Republik formuliert wurde.

Container als temporäre Unterkünfte: APROP Ciutat Vella von Straddle3, Eulia Arkitektura und Yaiza Terré

Um dieser Herausforderung entgegenzutreten, wurde in den letzten Jahren die Idee des Bauens mit Schiffscontainern erneut aufgriffen, ein Konzept, das auf die 1970er Jahre zurückgeht und bereits in anderen europäischen Städten – wenngleich mit gemischten Ergebnissen – umgesetzt wurde. Es ist daher interessant, einen Blick auf die spezifischen Anpassungen zu werfen, die für diese einzigartige Form des Recyclings im Lokalkontext von Barcelona vorgenommen wurden.

Containerbau APROP Ciutat Vella, © Ajuntament de Barcelona, unter Lizenz CC BY-NC-ND 2.0

Das inspirierendste Beispiel findet sich an einem überraschenden Ort: im Herzen des Gotischen Viertels. Der Standort des ersten APROP-Projekts (2020) ist kein Zufall, denn das Planungsteam, bestehend aus Straddle3, Eulia Arkitektura und Yaiza Terré, ist bestrebt, der Gentrifizierung des historischen Zentrums entgegenzuwirken, indem es sich ein im städtischen Besitz befindliches Grundstück zunutze macht. Der auffälligste Aspekt des Projekts ist seine Hülle aus Polykarbonat und Holz, die zur Klimatisierung der Wohnungen beiträgt und deren räumlichen Qualitäten verbessert. Darüber hinaus sorgt die Doppelfassade durch subtile Anspielungen auf die traditionelle Architektursprache für eine bessere Einbindung des Gebäudes in die Umgebung und befreit es gleichzeitig vom Stigma des Defizitären, mit dem Containerbauten häufig behaftet sind.

Mischlösungen: Wohnbau Tangerstraße von Coll-Leclerc und Edificio Caracol von Estudio Herreros und MIM-A

Temporäre Unterkünfte und Sozialwohnungen können auch auf innovative Weise miteinander kombiniert werden, wie Jaime Coll und Judith Leclerc mit ihrem Projekt in der Carrer Tànger in Poblenou (2018) eindrücklich beweisen. Dieses Gebäude ist um einen Innenhof herum organisiert, der den Baukörper unterteilt. Eine Reihe von Stegen und Brücken durchdringen diesen Zwischenraum, der sowohl als Verteiler als auch als Erweiterung des öffentlichen Raums fungiert. Die temporären Unterkünfte sind in einem Volumen gruppiert, das sich durch die differenzierte Behandlung seiner Fassade auszeichnet, ohne damit die Einheit des Projekts zu gefährden.

Sozial gemischter Wohnbau Tangerstraße, © Curro Palacios/barcelona.cat, unter Lizenz CC BY-NC-ND 4.0

Eine weitere Modalität, die sich in den letzten Jahren konsolidiert hat, ist die Einbeziehung von Sozialwohnungen in kommerzielle Projekte. Ein interessantes Beispiel für dieses Modell ist das Caracol-Gebäude in Sant Boi de Llobregat (2019), nach dem Entwurf des Architekturbüros Estudio Herreros in Zusammenarbeit mit MIM-A Arquitectes, das Wohnungen mit einer unterschiedliche Belegungsgröße von zwei bis fünf Personen beherbergt. Das Volumen, das von außen einfach, kompakt und zurückhaltend erscheint, ist unregelmäßig perforiert, wodurch eine Reihe von miteinander verbundenen Gemeinschaftsräumen entsteht, die im Inneren einen farbenfrohen und spielerischen Ausdruck annehmen.

Gemeinsames Entwerfen: Wohnungsbaugenossenschaft La Borda von Lacol

Ein besonders interessantes Organisationsmodell ist das der Wohnungsbaugenossenschaft, das in Barcelona unter anderem vom Architekturkollektiv Lacol vorangetrieben wird. In seinem symbolträchtigsten Projekt, der Hausgemeinschaft La Borda (2018), sucht es nach einer Alternative zum privaten und staatlich geförderten Wohnungsbau. In diesem Fall wird dies durch kollektives Eigentum auf einem in Erbpacht vergebenen kommunalen Grundstück erreicht. Planung und Verwaltung des Projekts erfolgen von Beginn im partizipativen Prozess und ermöglichen eine individuelle und gleichzeitig flexible Gestaltung der Wohnungen.

Wohnbaugenossenschaft La Borda, © GA Barcelona

Das formale und konzeptionelle Vorbild von La Borda ist die Corrala, ein seit dem 17. Jahrhundert in Kastilien und Andalusien verbreitetes mehrstöckiges Atriumhaus, das seinen Ursprung möglicherweise in den andalusischen Karawansereien findet. Obwohl es sich um einen Bautyp handelt, der in Katalonien keinerlei Tradition hat, gilt festzuhalten, dass einige singuläre Bauten Barcelonas typologische Ähnlichkeiten aufweisen, so zum Beispiel das Hotel Peninsular im Raval (1875).

In jedem Fall interpretiert das Team um Lacol die Typologie neu, indem es einen besonders attraktiven, sich in alle Richtungen öffnenden gemeinschaftlichen Innenhof schafft. Die visuelle Verbindung zwischen dem Erdgeschoss, dem ersten und dem fünften Stockwerk wird durch doppelte Höhen, transluzente Schiebewände und gestaffelte Innenfassaden, die zum Teil durch die flexible Konfiguration der Stockwerke entstehen, noch verstärkt. Besonders hervorzuheben ist an diesem Projekt das Engagement für Nachhaltigkeit – es handelt sich um einen Holzbau mit passiver Gebäudeklimatisierung, einschließlich eines Gewächshausdaches.

Wohnbaugenossenschaft La Borda, © GA Barcelona

Flexibles Grundriss-Raster: 85 Sozialwohnungen in Cornellà de Llobregat von Peris + Toral Arquitectes

Zu den wohl spannendsten Wohnbauprojekten der letzten Jahre zählen die Entwürfe von Marta Peris und José Toral, denen der soziale Wohnungsbau seit Anbeginn ihres Schaffens ein wichtiges Anliegen ist. Das bekannteste Projekt der beiden Architekten ist der 2021 fertiggestellte, 85 Wohnungen umfassende Sozialwohnungsbau in Cornellà de Llobregat. Die Konfiguration des Blocks, ein rechteckiges Prisma mit fünf Ebenen um einen zentralen, länglichen Innenhof, scheint auf den ersten Blick keine wesentliche Neuerung zu bieten und an den Prototyp Immeuble-villas von Le Corbusier (1922) und in gewisser Weise auch an die Wohnblöcke des Eixample in Barcelona anzuknüpfen.

85 Sozialwohnungen in Cornellà de Llobregat, © GA Barcelona

Zum Erfolg des Projektes haben maßgeblich andere Faktoren beigetragen, angefangen bei Entwurfs- und Konstruktionsstrategien, die die effiziente Nutzung von Holz maximieren, die Materialmenge reduzieren und die Ausführungszeiten verkürzen. Das unterscheidende Element des architektonischen Entwurfs ist jedoch das Raster, auf dessen Grundlage die Etagen organisiert, die Größe der Räume standardisiert und innere Verkehrsflächen eliminiert werden (denn letztere entziehen den Wohnräumen Nutzfläche).

Auch die äußeren Erschließungswege sind auf ein Minimum reduziert und gruppieren sich zu vier jeweils an den Ecken des Innenhofs gelegenen vertikalen Kernen. Was zunächst wie um den Gemeinschaftsraum angeordnete umlaufende Flure erscheint, entpuppt sich als private Terrassen. Ein dritter erwähnenswerter Punkt ist die funktionale Flexibilität des Entwurfs, die Peris und Toral bereits in früheren Projekten erprobt haben und die im konkreten Fall unmittelbar auf das modulare Grundriss-Raster zurückzuführen ist. Schließlich zeichnet sich das Gebäude auch durch die sensorische Vielfalt seiner Oberflächentexturen aus.

85 Sozialwohnungen in Cornellà de Llobregat, © GA Barcelona

Barcelona: Innovativer und nachhaltiger sozialer Wohnungsbau für eine zukunftsfähige Stadtentwicklung

Alle von uns besprochenen Beispiele zeitgenössischen sozialen Wohnungsbaus haben eine Gemeinsamkeit: ihr Engagement für eine sowohl in ökologischer als auch in sozialer Hinsicht nachhaltige Stadtentwicklung. Ein Aspekt, der noch vor 20 Jahren im Wohnungsbau eine eher untergeordnete Rolle spielte, ist heute für fast jedes architektonische Projekt unerlässlich.

So ist nicht zu übersehen, dass viele gelungenen Beispiele bezahlbaren Wohnungsbaus in Barcelona darauf abzielen, den CO2-Fußabdruck zu reduzieren – zunächst während des Bauprozesses durch die Verwendung lokaler Materialien und die Verkürzung der Bauzeit. Mittel- und langfristig wird angestrebt, durch fortschrittliche Klimatisierungsstrategien sowohl den Energieverbrauch als auch die Energieabhängigkeit der Wohnungen zu reduzieren. Andererseits führt der Ruf nach einer Ausweitung des sozialen Wohnungsneubaus zur Umsetzung von Projekten in noch nie dagewesenem Umfang, wie zum Beispiel der Wohnblock Illa Glòries, der nicht weniger als 238 Wohnungen beherbergen wird.

Soziales Wohnbauprojekt Illa Glòries, © Ajuntament de Barcelona

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich der Sozialwohnungsbau des 21. Jahrhunderts in Barcelona durch Quantität, Qualität und einer Vielfalt an Lösungen auszeichnet und dabei gemeinsamen Leitlinien einer nachhaltigen Entwicklung folgt – ein Sachverhalt, der uns mit Zuversicht und Vertrauen in die Zukunft der Stadt und ihrer Architektur blicken lässt.

Text: Pedro Capriata

LITERATURVERZEICHNIS

A+T Architecture Publishers (2022). a+t 56: Generosity. Housing Design Strategies –The Indeterminacy of the Floor Plan.

Ajuntament de Barcelona (2022). Empiezan las obras de la manzana Glòries, la promoción de vivienda pública más grande de la ciudad.
https://www.habitatge.barcelona/es/noticia/empiezan-las-obras-de-isla-glories-la-promocion-de-vivienda-publica-mayor-de-la-ciudad_1148591

Arquitectura Viva (2019). Vivienda y alojamientos temporales, Barcelona. AV Monografías, Nº 213 -214. España 2019.
https://arquitecturaviva.com/obras/vivienda-y-alojamientos-temporales-en-barcelona

Arquitectura Viva (2021). Cooperativa de vivienda La Borda, Barcelona. AV Monografías, Nº 233 -234. España 2021.
https://arquitecturaviva.com/obras/lacol-arquitectura-cooperativa-la-borda-28-en-barcelona-zs6o2

Arquitectura Viva (2021). Edificio Caracol, Sant Boi de Llobregat. AV Monografías, Nº233 -234. España 2021.
https://arquitecturaviva.com/obras/edificio-de-viviendas-en-sant-boi-de-llobregat

Broto, C. (2014). Social Housing. Architecture and Design. UNKNO.

Burgen S. (2019). Sardine tins for the poor?: Barcelona’s shipping container homes. The Guardian. https://www.theguardian.com/cities/2019/sep/06/sardine-tins-for-the-poor-barcelonas-shipping-container-homes

Figuerola C., Bilbao I. (2023). Gestar-habitar: Estratègies per a l’habitatge social a Barcelona. Ajuntament de Barcelona.

Forner, G. (2022). Barcelona construye más vivienda pública que la Generalitat y la Comunidad de Madrid juntas. El Salto.
https://www.elsaltodiario.com/barcelona/construye-mas-vivienda-publica-madrid-generalitat-juntas

Frampton, K. (1992). Modern Architecture. A Critical History. Thames and Hudson.

Novo Muñoz, L. (2020) APROP, una interesante iniciativa de vivienda social temporal en Barcelona. Diariodesign.
https://diariodesign.com/2020/10/aprop-una-interesante-iniciativa-de-vivienda-social-temporal-en-barcelona/

Peris+Toral Arquitectes (s.f.). Modos de habitar.
https://peristoral.com/proyectos/modos-de-habitar

Vicente, S. (2022). Barcelona acuerda un crédito público de 140 millones para que fundaciones y cooperativas construyan vivienda social. elDiario.es
https://www.eldiario.es/catalunya/barcelona-acuerda-ico-icf-credito-140-millones-fundaciones-cooperativas-construyan-vivienda-publica_1_9207041.html

Published On: Juni 5, 2023Categories: blog
Barcelonas Superblöcke und Grünachsen, Bausteine für eine nachhaltige Stadtentwicklung
Die Pritzker-Preisträger und ihre Bauten in Barcelona I